Skulptur von Andreas Rimpel "Schlechte Nachricht", 2017, Eisenguss, 120x70x70cm
Skulptur von Andreas Rimpel "Schlechte Nachricht", 2017, Eisenguss, 120x70x70cm

Der naturalistische Kubist

Zum bildhauerischen Werk von Andreas Rimpel

 

von LENA NAUMANN

 

"Der Kubismus ist weder ein Samenkorn noch ein Fötus, sondern eine Kunst, der es vor allem um die Form geht. Und wenn eine Form einmal geschaffen ist, dann ist sie da und lebt ihr eigenes Leben weiter." Diese Zeilen stammen von dem Mann, der den Kubismus erschaffen hat und wie kein anderer entwickelte: Pablo Picasso. Anfang des 20. Jahrhunderts schuf er mit seinem Gemälde Demoiselles d'Avignon das erste kubistische Werk, das Natur und Begriff der Malerei und Bildhauerei fundamental veränderte. Dieses Bild war ein konsequenter konzeptioneller Bruch mit den seit der Renaissance vorherrschenden Regeln der traditionellen Hell-Dunkel-Malerei, der Perspektive und des klassischen Pinselstrichs. Es wollte nicht mehr die reale oder scheinbare Welt darstellen, sondern den Raum eines Gemäldes und seiner Motive formal völlig neu gliedern und darüber neue Werte- und Kräfteverteilungen schaffen. Der Inhalt und seine Darstellung mussten nicht länger übereinstimmen. Die reine Form wurde zum neuen Inhalt. Noch einmal Picasso:

„Man hat den Kubismus mathematisch, geometrisch und psychoanalytisch zu erklären versucht. Das ist pure Literatur. Der Kubismus hat plastische Ziele." Er bricht die geschlossene Form eines dargestellten Körpers auf zugunsten eines völlig neuen Formrhythmus. Die kubistische Plastik entwickelte sich zeitversetzt zum Kubismus in der Malerei und erlangte ihre Blütezeit erst in den 1920er Jahren. Ihre prominentesten Vertreter sind Alexander Archipenko, Rudolf Belling, Constantin Brâncusi, Raymond Duchamp-Villon, Henri Laurens und Jacques Lipchitz; ihre Plastik zeichnet sich durch eine facettierte Gestaltung der Figuren aus. Dass der Kubismus als Kunststil bis in die Gegenwartskunst hinein wirkt und auch in der Plastik immer wieder neue und so noch nie gesehene Formen hervorbringt, zeigt das bildhauerische Werk des bayerischen Künstlers Andreas Rimpel.

 

Kubismus im 21. Jahrhundert

Die Kunstgeschichte hat zwischen den 1870er und 1970er Jahren zahlreiche neue Strömungen hervorgebracht, beginnend mit dem Impressionismus und nicht endend beim Superrealismus, bei Concept Art, Land Art oder Neuer Figurativer Malerei. Heute ist die Kunst im Pluralismus, in der Vielgestaltigkeit, aber auch in einem spannenden Individualismus angekommen: Alle bisherigen Stilarten stehen gleichberechtigt nebeneinander oder vermischen sich. Jeder Künstler besitzt die Möglichkeit, auf einem bestehenden Kunststil aufzubauen, ihn weiterzuführen und darin eine individuelle, unverwechselbare Handschrift zu entwickeln. Wie das geschehen kann, ist am bildhauerischen Werk von Andreas Rimpel nachvollziehbar, beispielsweise an seiner Skulptur Der Grübler, die intuitiv von einer Akrobatenfigur aus dem frühen, in der Blauen und Rosa Periode entstandenen Bild Picassos Akrobat und junger Harlekin (1905) inspiriert wurde. Rimpel hat diese Figur aufgegriffen und sie als kubistische Skulptur nachempfunden, wobei sich sein Kubismus deutlich von demjenigen Picassos und den typischen Vertretern der kubistischen Plastik unterscheidet. Picasso wie auch Braque haben in ihrer Malerei das Motiv oftmals geradezu brutal „zerstückelt* und in cubes zerlegt. Und zwar so stark, dass es bei vielen Betrachtern an und über die Schmerzgrenze geht und die Erkennbarkeit des Ausgangsmotivs deutlich reduziert ist. Hier unterscheiden sich die Skulpturen von Andreas Rimpel vom frühen Kubismus. Seine Figuren bleiben in all ihrer kubistischen Anmutung auf nachvollziehbare Weise „naturalistisch"; sie geben ihre natürlichen Formen nie ganz auf. Ob beim Maschinenmenschen, bei Hilfe, bei Schlechte Nachricht (siehe Abb. oben) oder dem Kohlekumpel: trotz aller Schichten, Ecken und Kanten ist die Verfremdung und kubistische Zerlegung niemals so stark, dass der Betrachter Mühe bekäme, das Thema des Werktitels unmittelbar nachzuvollziehen. Von bekannten Vertretern der kubistischen Plastik wie Archipenko, Belling oder Lipchitz unterscheiden sich die Arbeiten Rimpels dadurch, dass sie noch konsequenter kubistisch im eigentlichen Sinne sind, also auf Rundungen und weiche, fließende Linien fast vollständig verzichten - mit Ausnahme des Werkes Pregnant Woman, bei dem die Rundung des Bauches zentral zum Thema gehört. Es dürfte in der Geschichte der Kunst wenige Skulpturen geben, die derart reich an 90-Grad-Winkeln sind wie die Skulpturen von Andreas Rimpel.

 

In seinen Werken läuft das dreidimensionale Viereck zur Hochform auf. Wie entstehen diese Arbeiten? Zunächst formt der Künstler aus Knetmasse ein kleineres Modell, an dem er über viele Wochen und Monate weiterarbeitet und dem Werk darüber Gelegenheit gibt, sich zu entwickeln. An die Knetmasse werden Holzlatten angesetzt, die dem Modell und der späteren Skulptur ihre kantige, vielschichtige Endform verleihen. Dann wird das Werk maßstabsgerecht in ein größeres Modell übersetzt. Die Negativform der Holzlattenverschalung kann nun entweder mit Beton ausgegossen werden, oder die Skulptur wird in einer Kunstgießerei - bei den Werken Rimpels in der Kunstgießerei Grundhöfer in Niedernberg - aus Bronze oder Eisen gegossen. Für den Metallguss wird für das in Rigips, Holz, Beton oder Ton gefertigte Originalmodell eine Silikonnegativform erarbeitet die sogenannte Urgegenform - und daraus das eigentliche Arbeitsmodell in Form eines Wachspositivmodells gefertigt. Von diesem wird wiederum eine Negativform aus Keramik erstellt: so entsteht die eigentliche Gussform. Aus der Keramiknegativform wird das Wachsmodell herausgeschmolzen. In das Keramiknegativ wird die flüssige Bronze oder das flüssige Eisen gegossen, der Guss nach dem Abkühlen und Aushärten von Gießkanälen befreit, ziseliert und patiniert, bis die Metalloberfläche der Plastik eine homogene Färbung aufweist. Die Herstellung der Arbeiten von Andreas Rimpel geschieht nach einem modernisierten, im Kern aber traditionellen und seit der Antike praktizierten Prozedere: dem Wachsausschmelzverfahren. Seit mehr als zweitausend Jahren sind unzählige Bronzeplastiken auf diese Weise gefertigt worden, und sie alle erzählen von den Persönlichkeiten und dem Selbstverständnis der Epochen, in denen sie entstanden sind.

 

Die Werke von Andreas Rimpel zeigen Menschen mit Ecken und Kanten, in emotionalen Ausnahmesituationen und – formal gesehen - mit einer äußeren Gestaltung, die im Kubismus ihre Wurzeln besitzt, aber deutlich über seine Ursprünge hinaus geht. In denen der rechte Winkel, die Horizontale und die Vertikale ein Fest zu feiern scheinen, die aber auch ein deutliches Bild der seelischen Befindlichkeit des Menschen am Anfang des 21. Jahrhunderts zeigen: Werden wir Heutigen nicht selber allmählich zu „Maschinenmenschen", weil wir mehr und mehr in Personalunion mit unseren Smartphones existieren, dominiert von Bildschirmen und Algorithmen? Und stehen wir in einer komplexer werdenden digitalen Welt nicht unter ähnlicher Anspannung wie viele dieser Figuren, fühlen uns wie sie oft verzweifelt und seelisch verarmt? Auch diese Geschichte steht hinter den Werken von Andreas Rimpel, der in ihnen das innere Befinden der heute lebenden Menschen intuitiv erfasst und zum Ausdruck gebracht hat. In 2017 wurden auf Einladung des Europäischen Kulturzentrums die Skulptur Schlechte Nachricht und in 2019 das Werk Hilfe im Kontext der Biennale Venedig im Palazzo Mora gezeigt. Sie stehen exemplarisch für das Lebensgefühl der Menschen in unserer Zeit und für die Möglichkeiten von Bildhauerei in der Gegenwartskunst.

 

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